Montag, 30. Januar 2012

Lesebühne im Januar 2012

Die Lesebühne steht seit Januar 2012 wieder im Zeichen des Carmer-1-Wettbewerbs, dem sich am 29.1. Jörn Sack, Gesine Palmer, Stephan Schwarz, Nike Anna Huss und Peter Schedensack stellten.
Jörn Sack las einen Text, dem die Idee vorausging, Nachrufe auf berühmte Enden zu schreiben, und mit ihnen eine Reise vom Pathos zur Sachlichkeit zu unternehmen. Das gelang ansatzweise. Der Text bestand aus einer illustren Sammlung berühmter Enden, war gefüttert mit vielen Fragen und Kommentaren zu den Enden, die aber, wie bemerkt wurde, noch zu materialhaft waren und sich nicht zusammenfügten. Auch das Pathos der Enden wurde von manchen bestritten. Insgesamt aber kam die Idee und das Material sehr gut an.
Gesine Palmer las aus ihrem 1000-seitigen Projekt, das Ilias und Odyssee mit einer biografischen Erzählung verknüpft, in der das Verknüpfungsglied ein Vorfahre mit dem titelgebenden Namen des Projektes ist: Achill Der Text fand zunächst Zustimmung, der Autorin wurde sehr feines Sprachgefühl bescheinigt, dann aber kam es zu einer heftigen Diskussion über die Darstellung armer Familien im Text, die eine mittelständische Herkunft verrate, was die Autorin wiederum heftig bestritt. Sie käme nicht aus der Mittelschicht. Die Kritik bestand darin, die Verhältnisse zu oberflächlich und kenntnislos zu beschreiben. Die Autorin verteidigte dies damit, dass es ein Recht gebe, Elitäres zu schreiben und dies wolle sie auch. Die Diskussion wurde abgebrochen, da die Zeit drängte.
Als nächstes las Stephan Schwarz zum vierten Mal aus seinem Projekt mit dem Titel "Benjaminfeldteilchen". Sehr viel konkreter fiel diese Passage des Werks im Vergleich zu den bereits Vorgelesenen aus, wenngleich immer noch Konkretheit vermisst wurde. Jedoch gab es einen erkennbaren Protagonisten, der einen einsamen Platz zum Beten suchte und in einer Eiche auf einem Feld fand. Viele Zuhörer fühlten sich berührt von einzelnen, poetisch gehaltenen Textstellen. Auf die Frage, ob der Text ein Bekenntnis zur Einsamkeit sei, reagierte der Autor zustimmend. Wie immer wurde der Autor gebeten, das Lesen noch mehr zu üben, zu viel ginge verloren bei seiner die Interpunktion ignorierenden Leseweise. Auch hafte dem Text nach wie vor etwas Internes, Hermetisches an, das dem Vorhaben und Wunsch, verstanden zu werden, eher im Wege stehe. Trotz dieser Kritik war die Reaktion auf den Text insgesamt sehr wohlwollend.
Nike Anna Huss las eine Fußnote zur Fußnote zu Rom von Günter Eich, die allgemein Anerkennung fand und das Thema aufscheinen ließ, ob das, was vor 40 Jahren z. B. im Gedicht von Eich vermisst wurde: Platz für Steingärten, Platz für die Welt, heute in einem solchen Übermaß vorhanden sei, dass man eher daran ersticke.
Außerdem las Nike Anna Huss auch eine prosalyrische Miniatur mit dem Titel "Roter Donnerstag oder stabiler Kreislauf", in dem interpunktionslos ein Gang auf einem Friedhof, der mit einer Vernissage verglichen wird, in Fragen zum Sterben und Werden mündet. Der Text findet seinen Reiz darin, durch die fehlende Interpunktion verschiedentlich gelesen werden zu können, je nach eigener Komma- und Punktsetzung. Um dies zu ermöglichen, habe die Autorin auch auf den Zeilensprung verzichtet, weil dieser eine bestimmte Leserichtung vorgegeben hätte. Auch dieser Text fand viel Zustimmung.
Zuletzt las Peter Schedensack einen szenischen Monolog aus der Sicht eines im Altenheim lebenden SS-Mannes, der seinem Sohn unwillig schreibt, unwillig deshalb, weil er seine Erinnerungen an die Nazizeit aufschreiben soll, aber nicht will. Der Monolog wurde heftig diskutiert. Einig war man sich darin, wie wichtig es ist, dieses Thema zu behandeln. Uneinig darin, ob man es aus dieser Perspektive heraus dürfe, ob die Täterperspektive nicht Gefahr laufe, die Taten zu verwässern bzw. ein Verständnis einzufordern, das nur schädlich sein kann, weil es uns den Sinn für das Grauen nimmt. Hier gab es einen deutlichen Generationsunterschied zu beobachten: Während die Generation der Täterkinder, die in den 30ern Geborenen fast einstimmig der Meinung waren, dass man keine persönliche Perspektive der Täter zulassen solle, sahen die Kinder der Kriegskinder dies anders und meinten, gerade das sei notwendig, um zu verstehen, wie es zu dem Erfolg der Nazis kommen konnte.
Angesichts der immer dunkler werdenden Nacht wurde die Diskussion beendet und bei Wein und Bier fortgesetzt. Zum Schluss wurde aber noch der Gewinner des Abends ermittelt und das war erstaunlicherweise: Peter Schedensack. Bis auf eine Gegenstimme fielen alle Stimmen auf seinen Text, den wir dann nochmal im Sommer (Juni oder Juli) hören können.

Noch eine Randnotiz: Am Januar-Sonntag fehlte Signe Ibbeken aus familiären Gründen, wir haben ihre unverwechselbare Stimme im Chor der Reagierenden stark vermisst und freuen uns, dass sie ab Februar wieder dabei ist!
Bis zum nächsten Mal und einen schönen Februar wünscht
das Carmer 1-Team

Die Lesebühne im November 2011

Ingrid Veit las „Über Nacht“, eine Kurzgeschichte über eine alte Frau, die nach und nach in eigene, zum Teil surreale Innenwelten abgleitet, bis sie am Ende mit ihrem Trecker in einem See landet. Gefallen haben die detailliert beschriebenen Momentaufnahmen in dem Leben der alten Frau sowie die „seltsame“ Stimmung. Allerdings hat die Autorin immer wieder Fragen in den Text eingefügt, die, so die Kritik, den Erzählfluss stören würden.
Petra Klingel las anschließend Lyrik. Dichte Momente und eigenwillige Bilder wechselten mit zu häufig Gehörtem ab. Auch Ungenauigkeiten in der Aussage mancher Textstellen wurden kritisiert.
Als geplante Überraschung gab Oliver Mahlke die beiden Gedichte: „Die Firma dankt“ und „Anschreiben“ von Ralf Rothmann als eigene aus. Mit diesem kleinen „Test“ wollten die Moderatorinnen Vorurteile gewisser Lesebühnenbesucher („das macht man nicht“, „das darf nicht“), mit den Gedichten eines renommierten Autors infrage stellen. Dies gelang auch. Zum Beispiel wäre der Begriff „Angestelltenlyrik“ vermutlich nicht gefallen, wenn der Autor vorher bekannt gegeben worden wäre. Insgesamt war das Publikum von Rothmanns Gedichten jedoch eher beeindruckt.
Zum Abschluss las Günter Fezer „ein Wintermärchen“, eine kurze Geschichte über Glasmännchen, die zerbrechen, frieren oder sich einsam fühlen, jedoch im Gegensatz zum Menschen Warnglöckchen besitzen, die sie vor Verbitterung schützen. Der Autor selbst betrachtete seine Geschichte selbst als zu kitschig, wurde aber von einer Hörerin ermutigt: „Stehen Sie dazu, zu berühren“.
Dies war die letzte Lesebühne im Jahr 2011. Wir freuen uns auf Euch und Sie und interessante neue Texte im Jahr 2012.

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