Texte der Lesebühne am 31.10.2010
Hillert Ibbeken: Der Fehlgriff
Mein Großvater war ein strenger Mann. Schlank und groß, trug er immer einen dunklen Anzug mit Weste und goldener Uhrkette, seine vollen weissen Haare standen in einem kurzen Bürstenschnitt auf dem Kopf, wie bei Hindenburg. Er mochte gut in den Achtzigern sein, das war im Sommer 1945, ich hatte es damals auf zehn Jahre gebracht. Wir kannten uns noch nicht lange, die Mutter und die Kinder waren gerade erst vor den Russen zu den Großeltern nach Schleswig geflohen. Einige Erlebnisse, man kann es auch Zusammenstösse nennen, hatten mich gelehrt, ihn zu fürchten, und ich bestand aus schlechtem Gewissen, wenn immer ich ihn sah. Er besaß eine große Druckerei, wahrscheinlich war er von Sorgen zerfressen in jenen Tagen und der Abenteuerlust des Zehnjährigen nicht gewachsen.
Im Maschinenhaus der Druckerei trieb eine gewaltige Dampfmaschine über breite Lederriemen ungezählte Druckmaschinen an. Hinter dem Maschinenhaus stand in einem ziemlich verwilderten Garten ein hoher, schmaler Birnbaum, über und über voll mit dicken Birnen, allerdings, wenn ich mich recht entsinne, mit ziemlich grünen und harten Exemplaren, die man, selbst jetzt in der Septemberreife, nur mit den Vorderzähnen raspeln konnte, so hart waren sie. Klar, dass die Birnen für uns tabu waren, gar nicht einmal zu Unrecht, alles Essbare war extrem wertvoll und wir zankten uns darum, die Pellkartoffeln pellen zu dürfen, wenn es welche gab, weil man dann den dünnen Kartoffelschmitz, den das flach eindringende Messer aus der Kartoffeloberfläche löste, als zusätzlichen Genuss vertilgen konnte.
An die Stimmung im sommerlichen Birnengarten erinnere ich mich nicht mehr. Die Stimmung eines Birnbaumgartens ist aber seit Fontane und Herrn von Ribbeck so festgelegt, daß dem kein anderes Bild entgegengesetzt werden muss. Das Bild tut auch nichts zur Sache, ich hatte gerade eine Riesenbirne in meine Hosentasche gestopft, sie saß so stramm darin, dass ich die Hose hätte ausziehen müssen, um sie wieder heraus zu bekommen, als der Großvater den Garten betrat und wie der Löwe auf das Zebra geradeaus und zielstrebig auf mich zukam. Ich war gelähmt. Er lächelte freundlich, jedenfalls kam es mir so vor, vielleicht war er ja auch wirklich freundlich gesonnen, warum immer, oder er war scheinheilig, solange nichts bewiesen war, damit die Wirklichkeit um so schrecklicher hereinbräche, die Entdeckung der die Nähte spannenden Birne in der linken Hosentasche.
Die rechte Hosentasche war allerdings ebenso prall gefüllt, mit einer damals heißgeliebten Zigarettendose, einem zigarettenhohen, ovalen Gefäß der Marke Astor, in das hinein ich Kippen für meinen Vater sammelte. Niemand kann heute mehr den Wert einer Zigarette jener Zeiten ermessen, die Qualen der Raucher ohne Tabak. Alle meine Freunde sammelten damals Kippen.
Der Großvater stand jetzt unmittelbar vor mir und sagte „Na“, sagte er ganz freundlich, „was haben wir denn da?“ Er meinte natürlich „was hast Du denn da“, aber er fraternisierte, ganz wie der Onkel Doktor mit seinem „wo tut es uns denn weh“. Zum Greifen nah, im Wortsinn, war sein Triumph, dem bösen Buben die Birne aus der Tasche zu ziehen, das Schlechte dieser Welt zu brandmarken und den Übeltäter zu vernichten. „Na, was haben wir denn da“, wiederholte er, bückte sich zu mir herab, streckte die Hand aus -- und zog die Niete, er griff nach der Hosentasche mit der Zigarettendose und den Kippen. Er war konsterniert, so konsterniert, dass er die andere Tasche zu examinieren vergaß. Ich stammelte irgendetwas, er aber drehte sich wortlos um und verließ die sommerliche Birnenidylle so schnurstracks wie er gekommen war. Jemand hatte eine Schlacht verloren, ich aber war neu geboren.
Mein Großvater war ein strenger Mann. Schlank und groß, trug er immer einen dunklen Anzug mit Weste und goldener Uhrkette, seine vollen weissen Haare standen in einem kurzen Bürstenschnitt auf dem Kopf, wie bei Hindenburg. Er mochte gut in den Achtzigern sein, das war im Sommer 1945, ich hatte es damals auf zehn Jahre gebracht. Wir kannten uns noch nicht lange, die Mutter und die Kinder waren gerade erst vor den Russen zu den Großeltern nach Schleswig geflohen. Einige Erlebnisse, man kann es auch Zusammenstösse nennen, hatten mich gelehrt, ihn zu fürchten, und ich bestand aus schlechtem Gewissen, wenn immer ich ihn sah. Er besaß eine große Druckerei, wahrscheinlich war er von Sorgen zerfressen in jenen Tagen und der Abenteuerlust des Zehnjährigen nicht gewachsen.
Im Maschinenhaus der Druckerei trieb eine gewaltige Dampfmaschine über breite Lederriemen ungezählte Druckmaschinen an. Hinter dem Maschinenhaus stand in einem ziemlich verwilderten Garten ein hoher, schmaler Birnbaum, über und über voll mit dicken Birnen, allerdings, wenn ich mich recht entsinne, mit ziemlich grünen und harten Exemplaren, die man, selbst jetzt in der Septemberreife, nur mit den Vorderzähnen raspeln konnte, so hart waren sie. Klar, dass die Birnen für uns tabu waren, gar nicht einmal zu Unrecht, alles Essbare war extrem wertvoll und wir zankten uns darum, die Pellkartoffeln pellen zu dürfen, wenn es welche gab, weil man dann den dünnen Kartoffelschmitz, den das flach eindringende Messer aus der Kartoffeloberfläche löste, als zusätzlichen Genuss vertilgen konnte.
An die Stimmung im sommerlichen Birnengarten erinnere ich mich nicht mehr. Die Stimmung eines Birnbaumgartens ist aber seit Fontane und Herrn von Ribbeck so festgelegt, daß dem kein anderes Bild entgegengesetzt werden muss. Das Bild tut auch nichts zur Sache, ich hatte gerade eine Riesenbirne in meine Hosentasche gestopft, sie saß so stramm darin, dass ich die Hose hätte ausziehen müssen, um sie wieder heraus zu bekommen, als der Großvater den Garten betrat und wie der Löwe auf das Zebra geradeaus und zielstrebig auf mich zukam. Ich war gelähmt. Er lächelte freundlich, jedenfalls kam es mir so vor, vielleicht war er ja auch wirklich freundlich gesonnen, warum immer, oder er war scheinheilig, solange nichts bewiesen war, damit die Wirklichkeit um so schrecklicher hereinbräche, die Entdeckung der die Nähte spannenden Birne in der linken Hosentasche.
Die rechte Hosentasche war allerdings ebenso prall gefüllt, mit einer damals heißgeliebten Zigarettendose, einem zigarettenhohen, ovalen Gefäß der Marke Astor, in das hinein ich Kippen für meinen Vater sammelte. Niemand kann heute mehr den Wert einer Zigarette jener Zeiten ermessen, die Qualen der Raucher ohne Tabak. Alle meine Freunde sammelten damals Kippen.
Der Großvater stand jetzt unmittelbar vor mir und sagte „Na“, sagte er ganz freundlich, „was haben wir denn da?“ Er meinte natürlich „was hast Du denn da“, aber er fraternisierte, ganz wie der Onkel Doktor mit seinem „wo tut es uns denn weh“. Zum Greifen nah, im Wortsinn, war sein Triumph, dem bösen Buben die Birne aus der Tasche zu ziehen, das Schlechte dieser Welt zu brandmarken und den Übeltäter zu vernichten. „Na, was haben wir denn da“, wiederholte er, bückte sich zu mir herab, streckte die Hand aus -- und zog die Niete, er griff nach der Hosentasche mit der Zigarettendose und den Kippen. Er war konsterniert, so konsterniert, dass er die andere Tasche zu examinieren vergaß. Ich stammelte irgendetwas, er aber drehte sich wortlos um und verließ die sommerliche Birnenidylle so schnurstracks wie er gekommen war. Jemand hatte eine Schlacht verloren, ich aber war neu geboren.
schoenfeldt - 13. Nov, 14:31