Texte vom 29.8.2010

Sonntag, 29. August 2010

Günter Duscher: Mou, Fragmente VII

Langsam gleitet die Landschaft unter mir vorbei. Es ist das Tal eines großen Stromes. Es ist mein erster Einzelflug. Der QuuRue gleitet durch die kühle Nachtluft. Es ist eine Sie im mittleren Alter. Die frühen Morgennebel beginnen zu steigen. In dieser Höhe beginnt der Tag früher. Die Doppelsonnen steigen langsam über den Horizont. Ein neuer Frühlingstag beginnt. Die Landschaft unter mir besteht aus vielen schwarzen Flecken und wenigen Konturen. Es wird ein Flug über mittlere Distanz. Es ist der erste Flug ohne Trainer. In der Nacht wurde ich geweckt. Die Vorbereitung des Take-off war bereits erledigt. Nach einem kurzem Imbiss saß ich im Sattel. Der Take-off war unheimlich. Erst lief der QuuRue schnell in die Dunkelheit. Dann stoppte er abrupt und drehte auf der Stelle. Sie breitete die langen Schwingen aus und wartete. Dann begann sie mit den Schwingen zu schlagen. Sie lief erst langsam dann immer schneller und rannte zum Schluss. Dann flog sie niedrig und unbeholfen. Nach und nach gewannen wir an Höhe. Die Nacht war mondlos und kaum Sterne sind zur dieser Jahreszeit am Himmel. Es wird langsam hell unten am Boden. Die Landschaft beginnt farbig zu werden. Blaugrüne Vegetation wechselt mit blauvioletten Mulden ab. Der Nebel hebt sich und wird transparenter. Die Doppelsonnen sind über dem Horizont. Die ersten Thermiken beginnen sich zu bilden. Der Tag scheint wolkenlos zu bleiben. Wälder und Felder mit hohen Gräser sind bereits erkennbar. Wir fliegen zwischen dem Strom und der alten Handelsroute. Die Straßen sind ansatzweise als Striche zu erkennen. Die Sümpfe und der Strom sind noch im Nebel verhüllt. In diesem Bereich ist der Strom in viele Flüsse verzweigt. Dieser Bereich ist kaum passierbar. Die beste Chance besteht darin mit einen Kanu den Flüssen zu folgen. Wir drehen nach links und verlassen den Strom. Danach beginnt eine Ebene aus Hügelketten. Es sieht aus wie der Grund eines seichten Sees. Die Hügel sind mit Sträuchern und Gräser bewachsen. Sie hat gerade eine Thermik angesteuert. Wir kreisen und gewinnen Höhe. Ich habe einen Moment Zeit die Horizonte zu betrachten. Auf der einen Seite geht das Stromtal in ein Mündungsdelta über. Hinter den Strom sind Mittelgebirge. Der Ozean ist teilweise zu sehen. Es ist eine Bucht eines Randmeeres. Das Gebirge über das die Sonnen aufgehen liegt in der Ferne. Hinter den Hügelebenen liegt eine Tiefebene. Diese ist mit hohen Gräsern bewachsen. Man sagt dass sie ursprünglich ein Teil eines Ozeans war. Jetzt geht es weiter zum Ziel.
Der Strom mündet nicht komplett in das Randmeer. Teile davon fließen links in eine bewaldete Ebene. Sie werden nach kurzer Strecke durch Hügelketten und mittlere Gebirgsketten separiert. Bekannt sind ein schmaler Strom und drei Flüsse. In dem unwegsamen Gelände kommt keiner einfach voran. In der Zeit bevor die QuuRue gezähmt waren nahm man an sie kämen getrennt aus dem Gebirge. Ich kann die Bucht deutlich zur Rechten erkennen.

Hillert Ibbeken: Die Wand

Die Wand war glatt, graubraun verputzt, mit schwach körniger Oberfläche. Links sprang sie im rechten Winkel zurück, also etwa wie die Ecke eines Gebäudes. Die Wand war sechs bis sieben Meter hoch, schätze ich im Nachhinein, darüber war nichts. Ich stand unmittelbar vor ihr, nein, ich war schon fast auf die Hälfte emporge-stiegen und presste mich fest an sie heran, ein Bergsteiger. Sie roch nicht, weder gut noch schlecht. Ich stand, ich hielt mich mit einem Fuß in einer kleinen Nische, als Tritt, der andere Fuß suchte vergeblich nach einem Halt. Es gab mehrere solcher Nischen, unregelmäßig über den linken Teil der Wand verstreut, nahe der Ecke, aber mit ziemlich weiten Abständen. Die Nischen waren äußerst sauber ausgeführt, meine Nase hielt ich praktisch in eine hinein, ich sah alles ganz genau. Die Nischen waren alle peinlich gleich, etwa so tief wie eine Hand breit ist, einen hineingestellten Fuß konnten sie höchstens zur Hälfte aufnehmen, sie boten nur wenig Sicherheit.

Die Nischen waren, um es in Körpermaßen zu sagen, so breit wie eine ge-spreizte Hand und so hoch wie eine Elle. Das obere Ende war halbrund gehalten, wie das Segment einer Kuppel, der äußere Bogen war mit ganz kleinen Ziegeln sau-ber verblendet. Auch der schmale Boden der Nischen war mit feinen Dachziegeln ausgekleidet, eindeutig im Biberschwanz Muster. Wären die Nischen größer gewe-sen, hätten sie etwa eine griechische Statue aufnehmen können, Pallas Athene viel-leicht, Häuserschmuck Potsdamer Stadtvillen von Ludwig Persius aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aber sie waren klein und leer, die Nischen, und dienten ganz offensichtlich nur zum Besteigen, zum Erklimmen der Wand.

Ich musste da hinauf, unbedingt. Aber es ging nicht. Obwohl ich schon ziemlich hoch war, bestand keine Gefahr, es war alles ganz sicher, aber zwecklos, es ging nicht weiter. Das Einzige, was die glatte Wand außer den Nischen und ihrem bräunli-chen Putz bot, waren Griffe. Gute, solide Griffe. Sie waren etwa fingerdicken und fin-gerlangen Ästchen nachgeformt, mit vielfältigen Schnitzkanten, kreuzförmig an einen etwas dickeren, daumenlangen Ast geheftet, der fest in der Wand stak. Ein guter Griff, ich rüttelte vorsichtig an ihm, er war fest. Trotzdem hatte ich keinen guten Halt, denn die rechte Hand trug einen dicken Handschuh, wie man ihn benutzt, wenn ein heißer Topf aus dem Backofen genommen werden soll. Eine andere Hand hatte ich nicht, ich wusste nicht, wo sie war, sie kam einfach nicht vor. Wand, Nischen und Griffe, und ich zwischen Himmel und Erde mitten darin. Ich musste nach oben, es musste einfach möglich sein, eben noch hatte jemand die Wand vor mir schnell und problemlos durchstiegen und war nach oben verschwunden, ich hörte ihn nicht mehr, er war weg. Nun war die Reihe an mir. Die nächste Nische, der nächste Griff waren aber so weit entfernt, dass ich sie unmöglich erreichen konnte, obwohl ich groß bin.

Ich blickte an mir, an der Wand hinunter nach unten, vielleicht wollte ich doch umkehren, aber das war unmöglich. Ein junges, kleines Flusspferd, ein hübsches braunes Tier mit dickem Kopf und sabberndem Maul, es schmatzte etwas, war unter mir herangeklettert und kam nun nicht an mir vorbei, offensichtlich auf der einzig möglichen Route. Mein Gott, dachte ich, ein Flusspferd in einer solchen Wand, das kann doch nicht wahr sein. Aber es war wahr, das ungefüge Tier hatte, im Gegensatz zu mir, überhaupt keine Probleme mit den Nischen und Griffen. Nur ich versperrte ihm den Weg.

Dann wachte ich auf und tastete mich ins Badezimmer. Tags zuvor hatte ich ei-nen Fernsehspot erleben müssen, sogar in den Nachrichten, wo in irgendeinem Tier-park irgendwo in Afrika ein junges, verwaistes Flusspferd eine einhundertdreißig Jah-re alte Riesenschildkröte als Mutterersatz auserkoren hatte.

Ich finde solche Sendungen unverantwortlich.

Sonntag, 29. August 2010

Eiken Asen: Tattoo

Als er leise und sanft auf dem Stuhl in sich zusammenfiel, war es um ihre Dominanz geschehen. Er tat ihr leid. Das war das Aus.

Der Mann saß auf dem Behandlungsstuhl im Tätowier-Studio, denn seine dominante Freundin hatte sich ausgedacht, ihn durch ein Tattoo auf seinem Hintern, rechte
Backe, für immer als ihr Eigentum zu kennzeichnen. Der Schriftzug ‚Property of
Kattrin’ sollte seinen marmorharten Hintern zieren.

Und nun diese Ohnmacht nach ca. 4 Minuten Stechen des Tattoo-Meisters. Der blieb ganz ruhig, tätschelte Wange und Backe des Mannes kräftig. Der Mann kam wieder zu sich. „Sowas kommt vor“, meinte der Meister kühl. „Gleich geht’s weiter, ich steche noch das letzte Wort, das hält der schon aus. Wissen Sie, die Inuit, also die Eskimos,
die machen das ganz anders. Die ziehen mit Farbe getränkte Fäden oder Sehnen unter der Haut hindurch. Dagegen ist das hier Pippifax.“

Als die Frau dem Mann eröffnet hatte, heute würde er gekennzeichnet für immer,
irgendwo untenrum, da war das der absolute erotische Thrill für ihn, Unterwerfung pur.

Aber nun brach alles zusammen. Die Frau tröstete ihn, flüsterte ihm zärtlich ins Ohr „Ist ja gut, alles gut. Wir brechen das ab.“
Sie strich ihm über den Kopf, über seine restlichen 212 weißgrauen Haare, sie hatte sie mal gezählt, als er schlief.

So also stand auf der rechten Pobacke: Property of...
Und so blieb’s. Nie würde jemand erfahren, wessen Eigentum er war.

Der Mann erstarrte geradezu bei ihren liebevollen Bemühungen um sein Wohl, mit sowas konnte er nichts anfangen. Sein etwas verwohntes Gesicht glitt noch mehr aus den Fugen , und das Funkeln in seinen Augen erlosch. Die Frau dachte: Vielleicht ist ja Versagen ganz einfach unser beider Stil. Er versagt im Ertragen und ich in der Dominanz. Aber was soll ich eigentlich mit ihm? Immer noch einen draufsetzen, damit seine Augen wieder funkeln? Niemals Gefühle zeigen? „Geh nach Hause“, sagte sie freundlich. „Ruh dich aus, ruh dich lange aus. Ich habe in nächster Zeit viel zu tun.“

Der Mann sah sie an: „Schade, ich dachte, du bist die Frau, die ich lieben kann. Was für ein Reinfall! Na ja, die Ratten verlassen ja bekanntlich das sinkende Schiff.“

„Ja“, sagte die Frau, „und die Ratten nehmen nichts mehr übel, als wenn das Schiff nicht sinkt. Es sinkt aber, guter Mann, und die Ratten werden mir wohlgesinnt sein für immer. Adé.“

Eike Asen: Gespräch eines merkwürdigen Freiers mit der Mutter von drei Töchtern

Der Freier: „Sagen Sie, wieviele Töchter haben Sie? Vielleicht könnte ich eine lieben.“

Die Mutter: „Drei, alle lammfromm.“

Der Freier: „Nun, ich habe Ihre Töchter nie gezählt, aber ich bin sicher, Sie irren nicht. Mütter wissen sowas meist ziemlich genau.
Aber wie ist das mit den Lämmern? Sie gelten völlig zu unrecht als fromm. Sie bocken, brechen aus wie von Sinnen.

Sie verstehen, liebe Frau, es verhält sich in etwa so:
Glattes Haar, von einer schmalen Furche durchzogen, diese jedoch mit wenig Ambitionen, ein Scheitel zu sein. So ist das mit den Lämmern. Nichts hindert diese Tiere, zur Plage zu werden. Sie haben wenig Ambitionen, Lämmer zu sein.

Es gibt noch so viele wesentliche Fragen, z.B. : Haben Sie schon mal Serviettenringe gekauft? Also, Serviettenringe zu kaufen, das geht über meinen Verstand. Was soll denn da gebändigt, umringt werden? Die sanfte Serviette?
Sie antworten nicht ?

Nun, ich will deutlicher werden:

Sehen Sie, ein Dandy würde sich weigern, einen Koffer zu tragen. Ich weigere mich, ein Wölflein im Lammpelz, so eines mit rahmweißer, blonder Stimme,
zähmen zu sollen. Das sind sozusagen Schuhe, die mir zu groß sind, so groß,
dass ich entscheiden müsste, ob ich die Füße vorn oder hinten im Schuh abstelle,
und stolpern würde ich so oder so. Dies zu Ihren lammfrommen Töchtern.

Ach, sagen Sie, wie weit ist es zum Klo ? Dies ist meine letzte Frage an Sie, und sie ist von nicht geringer Bedeutung.“

Bei diesen Worten sah der Mann ganz weit weg, vorbei an der Mutter der drei Töchter, bis ans Ende der Welt oder so.

Die Antwort der Mutter ist leider nicht bekannt.

Susanne Schmidt: Balkon

Der Schlaf war auf unbestimmte Zeit verreist, ich wusste nicht, wohin.
Mir blieb nur der Balkon. Jede Nacht schlich ich mich hinaus und hockte dann müde in dem großen Holzstuhl. Neben mir noch ein Glas Wein, noch eine Zigarette.
Meine Blicke lernten fliegen und oft verlor ich mich für ungezählte Stunden in der Dunkelheit.
Irgendwann erwischte mich die Morgendämmerung. Das zarteste Rosa der Welt huschte über den Horizont und brachte neuen Mut und etwas Kraft. Dann trottete ich zurück ins kalte Bett, wälzte mich ein letztes Mal auf dem faltigen Laken und schlief. Lustlos. Allein.
Tagsüber dachte ich an alles- nur um nie an ihn zu denken. Ich war die Meisterin des Drumherum-Denkens.
Immer ging ich nach der Arbeit schnell ins Café an der Ecke. Dort bestellte ich hohe Gläser voller luftigleichtem, cremigweißem Schaum und dickflüssiger, dunkler Schokolade und stürzte mich in die Süße der Himbeertorten und Käsesahnekuchen.
Ich war mir nicht genug. Er fehlte mir so. Immer und überall. Wenn ich gar nicht mehr weiter wusste, ging ich ihn besuchen. Ich legte ihm Blumen aufs Grab und mich daneben. Dann flüsterte er mir sprachlose Worte von Liebe ins Ohr, schenkte Erinnerungen an Arme und Hände und Rücken und Haare und Lippen. Seine Lippen waren kostbare Quellen voller Leben.
Mir blieb nur der Balkon.
Zwischen all den schlafenden Geranien wisperte ich meine Sehnsucht in die leere Gießkanne. Den Fledermäusen band ich winzige Botschaften an die hauchzarten Ohren und jedem dicken Falter schrieb ich Wünsche auf die Flügelspitzen.

Dann, im Café, ganz plötzlich ein Geruch. Nur ein vager Duft in der Nase, nur ein erinnerter Geschmack auf der Zunge und Gänsehaut. Überall Gänsehaut.
Das hatte ich nicht bestellt.
Empört stand ich auf, verlangte die Rechnung und floh.
Zu Hause, vor dem sinnlosen Spiegel, fehlte etwas. Die Augen schauten wütend, der Mund war hart und die Hände fest geschlossen.
Zum ersten Mal in diesem Sommer sehnte ich die Nacht herbei, stellte schon am Abend den Wein auf den Balkon und kaufte eine neue Packung Zigaretten. Ungeduldig lief ich hin und her, zupfte an den vertrockneten Blättern des Weihrauchs und knipste die verblühten Stängel der Geranien ab.
Auf dem Stuhl lag eine dicke tote Motte. Mit dem ersten Abendhauch schwebte sie von meiner ausgestreckten Hand mitten hinein in die dunkelblaue Luft, in die sichere Wärme der Welt.
Diese Nacht war viel zu kurz.

Am nächsten Tag kam die Angst zu Besuch. Sie ließ mich lange zögern. Ich jammerte und schimpfte mit mir. Aber dann holte ich tief Luft, ein ganzes Meer atmete ich ein und ließ mich einfach treiben.
Am Tisch, zwischen Himbeertortenbissen und starken, schwarzen Kaffeeschlucken, wehte sein Geruch zu mir herüber.
Er roch so gut. Ich wagte einen Blick durch mein Wasserglas. Da saß er und las die Zeitung. Und beim Umblättern verirrte er sich in meine Augenblicke.
Schweigend sah er mich an und schickte Fragen durch das Café. Wie konnte sein Geruch meine Heimlichkeit erraten?
Und plötzlich, wie ein Donner aus heiterem Himmel, überfiel mich die Sehnsucht nach Liebe mit gewaltiger Wucht.
Und ich wusste wieder alles:
Niemand sollte Nachts alleine auf Balkonen hocken müssen.

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