Carmer Eins am 27.02.2013

Nach einer intimen Januarausgabe von Carmer Eins fand unsere Lesebühne im Februar ein ausgesprochen breites Publikum. Vor einer zunehmend jungen Zuhörerschaft erprobten am 24. Februar Susanne Schmidt, Nico Fischer und Kai Gutacker ihre unveröffentlichten Texte. Getreu dem Motto "ladies first" gab Susanne Schmidt mit ihrer Kurzgeschichte "Jetzt bin ich ein Zwerg" den Auftakt. In dieser werden die aussergewöhnlichen Begebenheiten im Leben des Obdachlosen Siggi geschildert, von seinem Bruch mit der eigenen Mutter bis zu den teilweise auch gewaltvollen Episoden aus dem Straßenleben. Unter den Zuhörern brach sehr schnell die Diskussion über den Text aus. Einige hörten aus den aussergewöhnlichen Geschehnissen Märchenanklänge heraus. Besonders die Bildersprache und die Erzähltechnik Susanne Schmidts wurden hierfür als Argumente angeführt. Auch sollen die Brüche mit der Realität von der Märchenhaftigkeit der Geschichte zeugen. Einige Mitglieder des Publikums bemängelten jedoch, dass die Figuren zu wenig ausgearbeitet seien und noch keinen Tiefgang hätten. Susanne Schmidt sah diese Kritik als durchaus berechtigt an und deutete in der Diskussion an, den Text dahingehend auszubauen.
Als Zweiter stieg Nico Förster hinter das Lesepodium. Der Germanistikstudent konnte bereits als Poetry Slammer einige Erfahrungen mit seinen Texten sammeln und trug daher die drei ausgewählten Gedichte besonders souverän vor. Im typischen Poetry Slam Duktus reflektierte er in „Wie Ich“ die ambivalenten Gedankenwelt und das Wesen eines nicht näher definierten lyrischen Egos. Ausnehmend positiv waren hiernach die Reaktionen des Publikums. Vor allem durch die performativen Kniffe seiner Lesung habe Nico Förster seinem Gedicht eine große Wirkung verliehen, so der Tenor. Das folgende, kürzere Gedicht „Magrit und ihre Schwester“ bot reichlich Stoff zur Interpretation. In dem parataktischen Gedicht über zwei Schwestern und eine erlittene Ungerechtigkeit, bemerkten einige eine gelungene Zuspitzung menschlichen Kommunikationsverhaltens. So wurde rasch diskutiert, welches Alter die Figuren trügen, ohne dass diese Frage ganz geklärt werden konnte. Einem steten Diminuendo des Textumfangs folgend, karikierte Försters drittes Gedicht „Identitätsverlust in einer Beziehung“ den Beziehungsalltag humorvoll in zwei Zeilen. Die ausgesprochen klug gewählte Pointe hinsichtlich des Gebrauchs von Kosenamen, stieß beim Publikum auf große Zustimmung und rief herzhaftes Gelächter hervor.
Nach der Pause war schon der letzte Lesende des Abends an der Reihe. Wie auch Nico Förster begann auch Kai Gutacker mit einem Gedicht. „Berlin. Nacht.“ erzählt die Eindrücke eines Neuankömmlings in Berlin, der lauten, hippen, reizüberflutenden Metropole und dessen nächtliche Reise durch den Großstadtdschungel. Als äusserst gelungen nahmen die Zuhörer die Sprache Gutackers auf. Kunstvoll und geschickt beschreibe er dieses berlineske Abenteuer, merkte eine Dame an. Zur allgemeinen Übereinstimmung in der sprachlichen Qualität gesellte sich jedoch auch die Frage, ob ein solches Gedicht ein Anachronismus der 20er Jahre ist. Und weiter noch, ob Gedichte über Berlin zum Selbstzweck nicht Kitsch und Massenware der 2000er Jahre sind. Darüberhinaus stieß „Berlin. Nacht.“ auch eine lyriktheoretische Debatte an. Sollte in Lyrik das Wort „man“ verwendet werden oder nicht? Ist es ein legitimes Mittel Szenen überindividuell zu beschreiben oder trivialisiert es Figuren? Selbstverständlich, wollte keiner der anwesenden eine allumfassende Antwort auf diese Frage geben.
Zum Abschluss noch harter Tobak. Kai Gutackers zweiter Text, dieses Mal Prosa, unter dem Titel „Das Andere“ versetzt sich in ein krebskrankes Mädchen, dessen Operation kurz bevorsteht. Mit besonderer erzählerischer Präzision legt Gutacker sehr deutlich das Innenleben des Mädchens offen und liess die Zuhörer an den verwirrten Gedankengängen eines verängstigten Mädchen teilhaben. Durchweg positiv war die Reaktion des Publikums. Dennoch habe man manchmal den Faden verloren, stellte ein Herr fest. Die Diskussion des Publikums daraufhin bewegte sich stark um die Frage, wie sehr verwirrende Elemente als narratives Mittel in Texten sinnvoll sind und welche Handlungsstränge klar bleiben müssen. Zudem wurde die von einer Zuhörerin als zu erwachsen denkende Hauptfigur als nicht authentisch kritisiert, wozu von anderer Seite eingewandt wurde, wer ein solches Schicksal in so jungen Jahren erfahre, müsse zwangsläufig einen gewaltigen Schub Lebenserfahrung erhalten.
Insgesamt war die zweite Lesebühne im Jahr 2013 eine überaus anregende. Vor allem die sehr jungen Autoren Nico Fischer und Kai Gutacker konnten das Publikum über weite Strecken überzeugen. Es bleibt zu hoffen, dass uns in Zukunft noch weitere junge Talente besuchen werden.

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