Carmer Eins am 26.05.2013

Die offene Lesebühne bot in ihrer Mai-Ausgabe einigen Zündstoff für spannungsgeladene Diskussionen. Hierfür sorgten erneut 5 AutorInnen, die ihre Texte zum Besten gaben. Abermals mit von der Partie waren Stammleser Wolfgang Hille, ebenfalls der von der vorigen Lesebühne bekannte Heiko Heller und der den Stammgästen noch aus der Januar-Ausgabe in Erinnerung gebliebene David Giorgobiani. Gänzlich unbekannt waren hingegen die Autorin Thalia Eicher und Naturwissenschaftler Joachim Seibt.
Am alten Brauch wurde nichts geknickt, bei schmuddeligem Mai-Wetter gab Heiko Heller mit seiner Geschichte „Der Hostessenwolf“ den Auftakt. In ihr beschreibt der Autor einen Besucher der ITB, auf der er den Stand seiner Heimatstadt besucht, statt in den Urlaub zu fahren. Dort trifft er auf die Studentin der Sozialpädagogik Antje, die in kurzem Rock Broschüren verteilen muss. Der Autor selbst kündigte schon vor seiner Lesung an, mache Jobs solle man als Student auch dann nicht annehmen, wenn man auf das Geld angewiesen ist. Mit väterlicher Stimme verteidigt der Hostessenwolf sein Viertel Hellersdorf (für das es keine Broschüren gibt), ehe er die Studentin derart in die Enge treibt, dass sie ihn mit zig anderen Broschüren abwimmeln muss. Letztlich wurde dem Zuhörer klar, dass der Protagonist in jedem Jahr das gleiche Procedere auf unterschiedlichen Messen vollführte.
Zunächst konstatierte das Publikum, die Geschichte, die vielmehr eine Glosse sei, funktioniere in der von ihr beabsichtigten humoristischen Art und Weise, biete aber wenig Angriffspunkte für eine literarische Diskussion, sei somit also möglicherweise falsch am Platz. Nachdem die Moderatoren ausdrücklich darauf hinwiesen, dass bei einer offenen Lesebühne jegliche Art von Literatur willkommen sei, bemerkte eine kritische Zuhörerin, zwar sei es eine runde Geschichte mit entfalteten Persönlichkeiten, jedoch fehle ihr die Kommunikation zwischen dem Wolf und Antje. Dadurch verfiele die Geschichte in nicht zusammengehörig wirkende Einzelteile, denen ein wirkliches Gespräch als Höhepunkt gutgetan hätte. Letztlich herrschte im Plenum Einigkeit, dass Heiko Hellers Geschichten stets humoristische Abrisse seien, die allerdings vom literarischen Standpunkt aus schwer zu zerlegen und zu kritisieren wären.
Die der Lesebühne unbekannte Thalia Eicher präsentierte der Zuschauerschaft zwei Gedichte. Das erste, titellose Gedichte handelt in 3 Strophen von den sich vom Innern lösenden Gedanken des lyrischen Ich. Ein älterer Kritiker bemängelte die pathetische Sprache des Gedichts, die aus dem 19. Jahrhundert entlehnt zu sein scheine. Jede Jugend, so sein Argument, müsse die ihr eigene Sprache in ihren Gedichten verwenden, sonst käme das Gedicht nicht über archaischen Klamauk hinweg. Viele jugendliche Zuhörer widersprachen heftig und argumentierten, die verwendete Sprache klänge für sie passend für Gedichte. Möglicherweise, so die Antwort, kenne die Jugend nur noch alte Formen des Gedichts, da in der Schule oftmals nur Goethe, Mörike oder Schiller gelesen werde. Oder aber, so die erneute Replik, flüchte die heutige Jugend in alte Formen, befinde sich auf einer Art Retro-Trip, um der heutigen Gesellschaft zu entfliehen. Generationen übergreifend wurde dem Gedicht eine ästhetisch ansprechende Qualität beigemessen, allerdings fehlte es einem großen Teil an Authentizität. Auch wurde nicht klar, warum manche Strophen sich reimten und andere wiederum nicht.
Das zweite Gedicht der Autorin hatte den Titel „Lieben“ und befasste sich mit dem Gefühl des spontan ergreifenden Verliebtseins. Kritische Stimmen bemängelten auch hier schon abgegriffene Metaphern, wie etwa „Schmetterlinge im Bauch“ oder „Ein Herz aus Porzellan“. Hierin erkannten jedoch die positiven Stimmen eine besondere Qualität des Gedichts, da alte Bilder in eine neue Sprache transferiert würden, sodass der Wahnsinn des plötzlichen Verliebtseins in die sonst so kalte Moderne geholt würde. Das Mittel der sprachlichen Konstruktion verschiedener Bilder mache daraus ein neues, sehr modernes Kunstwerk.
Dritter Autor war erneut Wolfgang Hille, dessen gesellschaftspessimistische Bilder der Lesebühne schon bekannt waren. Sein diesmaliger Text teilte die Meinung des Publikums. Der Erzähler warf hierin einen Panoramablick durch die Welt, in der ihm alles, wirklich alles als leer und nichtig erschien. Die erste Stimme aus dem Publikum zitierte Gottfried Benns Gedicht „Nur zwei Dinge“ aus dem Jahr 1953. Auf wenigen Versen würde der Dichter zu der Erkenntnis kommen, neben der Leere der Welt gäbe es noch eine Sache, für die es zu leben lohne, nämlich das gezeichnete Ich. Es sei, so die Kritik weiter, immer Aufgabe des Dichters, neben dem Schrecken der Welt eine Utopie zu öffnen und zu trösten. Der Text sei zu lang, werde vorhersehbar und würde eben diese Aufgabe des Dichters vernachlässigen. Der Autor empfand das Gedicht als „ganz nett“, entgegnete aber, er sehe die Aufgabe von Kunst darin, so nah wie möglich an der Realität zu bleiben. Eine Utopie aufzumachen wäre nichts als Religionsersatz. Während Teile des Publikums, die den Texten des Autors sonst positiv gesinnt waren, diesem Text eher negative Kritiken gaben, da er schlicht langweilig sei, sah der sonstige Hauptkritiker Wolfgang Hilles im vorgetragenen Text eine der besten Geschichten von ihm. Grade das Unpersönliche, das Nihilistische sei eine große Qualität des Textes. Letztlich akzeptierte der Autor die Kritik, der Text sei ihm zu lang geraten und berge wenig Neues.
Nach der Pause präsentierte Joachim Seibt seine philosophische Reflexion „Billard auf der Metaebene“. Das Publikum fragte, ob es sich hierbei um einen literarischen Text handle, da er keine Fiktionalität, sondern nur Faktualität aufweise. Positive Stimmen bescheinigten dem Text ein gutes Wechselspiel zwischen Philosophie und Realität, während andere ein allzu konstruiertes Ende feststellten. Eine derart gute Ausgangssituation verschiedener Personen in einer S-Bahn hätte durch eine fantasiereichere Varietät von Gedanken und Auffassungen gekrönt werden können. Doch nicht nur die Hauptmetapher des Katalysators, der durch fehlende Kommunikation seine Funktion verliere, entlarvte den Naturwissenschaftler in Joachim Seibt. Da alle Personen der Geschichte letztlich zum selben Schluss kämen, wäre der Text zu sehr auf ein faktisches, moralisch wirkendes Ende angelegt und wirke sehr wie eine Morgenandacht, so eine Stimme. Positiv wurde aber bis zum Schluss der Versuch gesehen, Philosophie und Literatur in diesem Text zu verbinden.
Den Schluss der Lesebühne machte David Giorgobiani, in dessen Geschichte der Ich-Erzähler einer Frau in eine Kirche und wieder heraus folgt und wenige Sätze mit ihr wechselt, bevor sie von einem Bus überfahren wird. Das Publikum erkannte in dem Text die beste Geschichte des Abends, da er sehr ergreifend sei. Der Voyeurismus des Mannes als Kernstück des Textes wurde als gut durchdacht beglückwünscht, allerdings wirke de Geschichte hier und da zu künstlich. Auf die Frage, warum der Erzähler manchmal mehr wüsste, als er real eigentlich wissen dürfte, antwortete der Autor, dieser Kniff ermögliche eine tiefere Beschäftigung mit dem Text. Ist alles, was der Erzähler sagt, wahr? Wenn er die Frau eine Hure nennt, ist sie denn dann automatisch wirklich eine? Der Text sei sehr nah an der Wirklichkeit, bemerkte Wolfgang Hille, allerdings flüchte er sich hier und da in tradierte und letztlich vorgeschriebene Rollenbilder. Seien nicht grade diese Rollenbilder die Wirklichkeit, so eine Gegenfrage. Es blieb letztlich großer Applaus für den Autoren und die konstruktive Kritik, beim Ausmalen der Bilder doch auf allzu viele Adjektive zu verzichten. Zu viele Noten, sagte einst der Kaiser.
Der Buchhändlerkeller öffnet am 30.06 seine Pforten für eine neue Runde Carmer Eins. Bis dahin wünschen die Moderatoren eine schöne Zeit.

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