Dienstag, 21. Mai 2013

Carmer Eins am 28.04.2013

Zum vierten Mal in diesem Jahr trafen AutorInnen und Publikum in der April-Ausgabe von Carmer Eins aufeinander. Mit Heiko Heller, Miku Kühnel und Sarah Rosengarten lasen 3 der Lesebühne noch unbekannte AutorInnen, die schon bekannten Kai Gutacker und Wolfgang Hille rundeten das Quintett der Lesenden ab. Allesamt sorgten vor vollem und altersmäßig stark durchmischtem Haus für lange und spannungsgeladene Diskussionen.
Für den dramatischen Akkord sorgte Heiko Heller als erster Leser, der in seinen 10 Minuten einen amüsanten Text über einen Mann lieferte, der sich auf Diskussionen mit jungen Straßenwerbern für gute Zwecke einlässt, denen er in väterlicher Manier ihre eigenen Irrtümer und Inkonsequenzen vor Augen führt. Auch wenn der Text einiges kritisches Potential gegen die Halbherzigkeit der Jugend bereitstellte, wurde er kaum diskutiert, sondern durchweg positiv aufgefasst. Heiko Heller selbst erklärte nach dem Vortrag noch in unnachahmlichem Berliner Dialekt, die Unterhaltung des Publikums sei nicht nur das primäre, sondern das einzige und konstitutive Ziel seiner Texte. Das anhaltende Lachen des Publikums beim Vorlesen seines Textes sei für ihn die einzige Befriedigung, die er wolle. Das Publikum erkannte, dass keine Diskussion einem solchen Text gerecht würde und entließ den Vortragenden mit starkem Applaus zurück auf seinen Platz.
Für deutlich mehr kontroversen Sprengstoff sorgten die beiden Texte von Miku Kühnel. Das Bild eines vormals Arbeitssuchenden auf dem ersten Weg zur neuen Arbeit, der vor der neuen Arbeitsstelle seiner Tochter das Bild einer Knospe per SMS versendet, kam beim jungen Publikum gut, beim älteren Teil schlecht an. Während der einsame Gang zur neuen Arbeitsstelle noch als äußerst zarte Impression geadelt wurde, erwies sich das Ende des Textes für große Teile des Publikums als unnötiger Bruch, durch den der große Teil des Textes unterminiert würde. Einzelne Gegenstimmen empfanden gerade das Gegenteil, der Versuch einer Kommunikation über neue Medien mit der Tochter wirkte auf sie wie der letzte Hilfeschrei des Textes. Gelobt wurde aber von allen die Empathie des Textes mit seinem Protagonisten. Der zweite Text der Autorin wurde aus Zeitgründen nicht mehr ganz so ausführlich diskutiert, doch auch in der Darstellung der Protagonisten Melissa als Exilantin sahen einige Stimmen Brüche und Ungenauigkeiten, so, als sei der Inhalt des Textes über ein vorher festgelegtes Konstrukt geworfen. Nichtsdestotrotz beeindruckte das Publikum auch hier die außergewöhnlich zarte Darstellung menschlicher Existenzen.
Vor der Pause gab als dritter Autor dann der aus der Februar-Ausgabe der Lesebühne schon bekannte Kai Gutacker einen Prosa-Text zum Besten. Dieser handelte von einer Gruppe junger Menschen, die im eindringlich beschriebenen Moskau gewagte Kletteraktionen ausführten, die sie filmten und zu Youtube hochluden. Neben dem in einigen Szenen beschrieben Buildering und Urban Climbing hatten die Protagonisten untereinander emotionale Spannungen, die sich in einem Finale am Flughafen entluden. Der Text wurde vom Publikum unterschiedlich aufgefasst. Die enorme sprachliche Fähigkeit des Autors, die schon 2 Monate zuvor gerühmt wurde, wurde erneut festgestellt. Der Sinn des Textes und die eigentliche Handlung erschloss sich jedoch den Wenigsten. Einige gaben selbstkritisch zu bemerken, dass der Text sie bei der Hälfte verloren hätten und sie ihm nicht mehr konzentriert folgen konnten. Darauf folgend konstatierte eine Dame, der Text behandele zu viele Facetten und zu viele Protagonisten, als dass er in eine Kurzgeschichte gepackt werden könnte. Viel eher müsse darauf ein Roman entstehen, da das Format der Kurzgeschichte die Protagonisten zu blass und abgehackt beschreiben könnte. Außerdem entstand eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit solcher extremen Sportaktionen. Das ältere Publikum befand solcherlei Gefahrsuche als den Nihilismus unserer Zeit, wohingegen das junge Publikum den besonderen Reiz gefährlicher körperlicher Ertüchtigungen hervorhob. Auch wenn Kai Gutackers Text nicht so positiv wie ein anderer 2 Monate vorher aufgefasst wurde, entstand aus ihm dennoch eine lebhafte Diskussion, zuletzt auch über die Sinnhaftigkeit moderner Literatur.
Nach der Pause, in der Jazzstudent Benni sein Klavierkönnen zum Besten gab, sorgte Wolfgang Hille für den gesellschaftspessimistischen Start in die zweite Hälfte. Wie im Monat davor kreiste sein Text um die kaputte Welt, um gescheiterte Existenzen und ständig fröhliche Personen. Das Publikum konnte zwar keine wirkliche Handlung entdecken, der vom Autor erzeugte Stream of Poetry, ganz als wäre der Text ein einziger Gedankenfetzen, sorgte aber für sehr positive Rückmeldungen. Dass der Text letztlich bis zu Auschwitz rekurrierte, wurde nicht nur positiv aufgefasst, letztlich blieben dem Publikum vom Text aber starke Formulierungen und Reflexionen über Subjekt und Gesellschaft.
Den Schluss der länger als gewöhnlich dauernden Lesebühne markierte Sarah Rosengarten mit einem sehr modernen Text, der das Publikum an Autorinnen wie Charlotte Roche oder Helene Hegemann erinnerte. In ihm wurde, teilweise sehr obszön, teilweise sehr statisch, ohne rechtes Narrativ, eine Situation eines letztlich in die Pflanze masturbierenden Jugendlichen beschrieben. Während das ältere Publikum mit dem von einem Laptop abgelesenen Text nichts Rechtes anzufangen wusste, nahm das jüngere Publikum den Text als sehr modern positiv auf. Auch wenn er teilweise vor sich hin plätscherte, so wusste seine moderne Ausdrucksweise durchaus zu überzeugen. Auch sorgte der Text erstmals nach Heiko Heller wieder für sehr komische Momente, die das Publikum nach einiger schwerer Kost davor zum Ende der Lesebühne dankend annahm.
Vor hoffentlich erneut zahlenmäßiger großer Kulisse meldet sich Carmer Eins am 26.05. mit frischer Literatur zurück aus dem Buchhändlerkeller.

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