Dezember 2010

Mittwoch, 20. April 2011

Diskussion der Texte vom 19.12.2010

Die sechs AutorInnen Albert Liberg, Friederike Graeff, Conserve, Hillert Ibbeken, Esther Andradi und Johannes Groschupf bestritten die Lesungen der Dezember-Ausgabe von Carmer Eins und riefen mit ihren Texten mal wieder grundlegende Fragen zur Literatur auf den Plan.
Albert Libergs Text erzählt von einem Angestellten, der beim bewusst erlebten Sturz in den Tod sein Leben in groben Zügen Revue passieren lässt, um dann in einer Unterwasserwelt zu landen, die sich als Reich der Ewigkeit entpuppt. Der Text, so die mehrheitliche Meinung des Publikums, zerfiele in zwei Teile, die zugleich auch seine zwei Optionen enthielten: in den ersten –Rückblick aufs eigene Leben –, der sehr spannend sei und in den zweiten, der den Blick in die Ewigkeit werfe und eher Langeweile aufkommen lasse. Die Langeweile der Ewigkeit sei es ja gerade, die er darstellen wolle, erklärte der Autor. Ob das funktioniere, Langeweile darzustellen, ohne dabei langweilig zu werden, sei die Frage. Der Text rieche nach „Angestelltenprosa“ – Murren im Publikum – und laufe Gefahr, den Angestellten im Klischée zu ersticken. Vereinzelte Zustimmung.
Auch Friederike Graeffs Text hat eine Angestellte zur Hauptfigur. Erzählt wird von der Verbindung zwischen dieser Frau, die plötzlich Eier legt, und dem wegen Betrugs entlassenen Kollegen, den sie bei seiner Suche nach einer neuen Arbeit heimlich unterstützen will. Die Geschichte beeindrucke durch den parataktischen, pointierten Stil der Sprache und die erklärungs- und kommentarlose Darstellung der Frauenfigur, die die Tatsache, dass sie Eier legt, hinnehme wie all die bürokratischen Akte, die sie täglich zu verrichten habe, meinte ein Teil des Publikums, während der andere den Begriff der „Angestelltenprosa“ zum zweiten Mal in Runde warf und fragte, ob wir dieser Epoche nicht schon entronnen seien. Es dränge sich die Frage auf, ob „Angestelltenprosa“ unsere Wirklichkeit noch einfangen könne. Was denn „Angestelltenprosa“ sei, ob Kafka dann auch dazuzuzählen sei und ob Kategorisierungen wie diese hilfreich seien, lautete die empörte Gegenfrage. Der Text Graeffs mag in die Richtung von „Angestelltenprosa“ gehen, sei jedoch bitterböse ironisch und das mache ihn interessant, gemahnte einer der Kritiker. Jedoch, fuhr der Kritiker fort, eröffne sich damit auch die Frage nach dem Sinn von Literatur: Heute müsse sie Trost spenden. Widerspruch. Was das denn heiße: Trost spenden? Wie man immer wieder das Wort „müssen“ im Munde führen könne! Was das solle! Michel Houellebecq z. B., fuhr der Kritiker unbekümmert fort, spende nichts, gebe mit seinen Texten nichts. Aber wir bräuchten Trost. Zuspruch und Widerspruch. Ob Trost wirklich nötig sei oder ob es nicht eher darum ginge, etwas zu wagen, ob Literatur heute nicht viel zu selten etwas wage, ob nicht das Meiste braves Zeug sei. Es müsse doch darum gehen, das Unerträgliche noch unerträglicher zu machen!
Der folgende Text verschaffte sich dann auf eher spektakuläre Weise Gehör: der Dichter Conserve rezitierte frei eine Art manischer Rede oder lyrischen Rap, der um das Wortfeld Licht kreiste, viele Redensarten aus diesem Wortfeld wieder belebte, indem er durch eine entsprechende Kontextualisierung ihren wörtlichen Sinn wieder hörbar machte. Die Redewendung „hinters Licht führen“ z. B. gewann ihren wörtlichen Sinn durch den Kontext von „Himmel“, „Universum“, „Stern“ etc. wieder. Das sei genial gewesen, platzte es aus einer Zuhörerin heraus. Der folgenden Frage, ob das eine Improvisation gewesen sei, begegnete Conserve mit angenehmer Bescheidenheit, als er sagte, dass wäre dann wohl wirklich genial, nein, er habe an dem Text lange gearbeitet, Stück für Stück. Der reiche metaphorische Fundus, aus dem der Dichter schöpfe, sei imponierend, die sprachliche Gestaltung mal mitreißend, mal überfordernd. Sich hinstellen und Verse rezitieren, wo da noch der Unterschied (im positiven Sinne) zwischen Schiller und heute sei? Kurz und gut: die Leidenschaftlichkeit des Vortrags nahm das gesamte Publikum so sehr in Anspruch, dass eine spontane kühle Beurteilung ausblieb. Im Nachhinein stellte sich uns die Frage, ob es eigentlich einen Inhalt gab, oder ob sich der Text im Sprachexperimentellen erschöpft – was für einen mündlichen Vortrag auch vollkommen ausreicht, dann aber eher als Musik denn als Literatur zu verstehen ist, die sich auch dem Gelesenwerden stellen muss.
Nach einer kurzen Pause trat Hillert Ibbeken ans Pult und machte vor der Lesung seiner Sorge Luft, dass er nicht sicher sei, ob er mit seinem Text aus der Masse braver Literatur heraussteche. Der Text beschreibt den Aufenthalt des Erzählers mit seiner Lebensgefährtin in einem kleinen italienischen Dorf während eines religiösen Festes. Bevor das Fest sein Ende in einer Kirche findet, verlässt das Paar die heiligen Hallen, froh, dem ermüdenden Ritual entkommen zu sein. Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten: der Text sei eine Mischung aus akademischer Betrachtung und autobiografischer Erfahrung und deshalb eher beim Sachbuch anzusiedeln. Die Flucht der Bildungsbürger aus der Kirche wirke hochnäsig. Uneinigkeit herrschte über die Wirkung der autobiografischen Passagen, die manche als „zu privat“, andere als die interessantesten Stellen des Textes empfanden.
Esther Andradi, argentinische Autorin, deren Texte in deutscher Übersetzung erscheinen, las einen kurzen Text, der sehr verdichtet, fast lyrisch von der Begegnung einer Dame mit einem Kriegsmann in einem Kriegsgebiet erzählt und um die Frage der Abwesenheit und der Sehnsucht nach einer Sprache der Liebe kreist. Nach einer eher verhaltenen Reaktion seitens des Publikums, das offenbar nicht so recht wusste, was es von dem Text zu halten habe, erklärte die Autorin, dass der Ort, in dem die Begegnung stattfinde, Afghanistan sei, dass der Krieg der Alexander des Großen sei. Manche hatten das schon verstanden, andere warfen ein, dass das für das Verständnis des Textes nicht wichtig sei, dass man den Text auch abstrakt lesen könne, als eine allgemeine Aussage über Mann, Frau, Krieg und Liebe. Der Dichter Conserve bemerkte, dass ihn das Wort „Dame“ gestört habe. Zustimmung. Damit war die Frage der Übersetzung bzw. der Bedeutungsunterschiede zwischen dem deutschen Wort „Dame“ und dem spanischen Wort „dama“ auf dem Tisch. Andradi sagte, dass sie das deutsche Wort gut kenne und dass es keine Bedeutungsunterschiede gebe. Widerspruch von einer der spanischen Sprachen mächtigen Zuhörerin, die sagte, da gebe es doch Unterschiede. Der deutschen „Dame“ hafte nichts Würdiges mehr an, der spanischen hingegen schon. Die Dichterin schlug vor, bei kürzeren, lyrisch ausgestalteten Texten, diese unter dem Publikum zu verteilen. Diesen Vorschlag nehmen wir gerne an!
Die Lesung schloss ein Text Johannes Groschupfs ab, der mit seiner autobiografischen Erzählung „Zu weit draußen“ das literarische Feld 2005 eroberte. Der Text wirft einen Blick in drei Neuköllner Kneipen, erzählt von ihren Besuchern und ihren unerfüllten Wünschen. Eine Ich-Figur taucht sehr sparsam und hintergründig auf. Ihre stille Frage, was man sich wünsche, wird in den Buden unerfüllter, enttäuschter Wünsche eher als Provokation, nicht als Einladung empfunden.
Die Reaktionen waren wie immer unterschiedlich. Während die einen die Geschichte berührend, ihr Lokalkolorit gekonnt fanden, sahen die anderen das Klischée durch den Text galoppieren, der so vor sich hinplätschere.
Am häufigsten fiel in der Diskussion des Abends der Vorwurf, Klischees zu bedienen. Die Frage, ob denn Klischees nicht auch, wenn auch in erschreckender Weise, nah an der Wirklichkeit seien, viel näher als uns lieb ist, blieb unbeantwortet.

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